Die Kunst hat von jeher eine politische, repräsentative
Funktion. Früher machte sie die massgeblichen religiösen Tra-
ditionen und autoritären Ordnungen in Bildern anschaulich.
Heute leben wir im Zeitalter einer pluralistischen Demokratie,
und auch die moderne Kunst ist pluralistisch und demokra-
tisch geworden. Die Demokratie wird üblicherweise als Aus-
druck eines Gemeinwillens – la volonté générale – definiert.
Politische Institutionen der Demokratie müssen diesen
Gemeinwillen getreu repräsentieren, nur dann gelten sie in
unserer Zeit als ideologisch legitimiert. Was aber ist dieser
Gemeinwille? Wie ergibt er sich aus der konkreten Pluralität
der einzelnen Lebensformen, der verschiedenen Sprachen oder
kulturellen Traditionen?
Es ist offensichtlich, dass die tatsächlich funk-
tionierenden politischen Institutionen diese Vielfalt nicht zu
repräsentieren vermögen und folglich stets unter einem
Legitimationsdefizit leiden. Unsere Gesellschaften sind kultu-
rell gespalten, und es gibt keinen Gemeinwillen, dem die
Institutionen Ausdruck verleihen könnten. Das Einzige, was
die modernen politischen Institutionen tun können, ist,
die Vielfalt der partikulären Willen zu beaufsichtigen und zu
verwalten, ohne dass ihnen selbst irgendein eigener Wille
abgesehen vom reinen Willen zur Macht eignete. Dieses
Legitimationsdefizit wird in der modernen Gesellschaft
kompensiert durch deren Kultur, und zwar insbesondere durch
die Künste. Die Kunst hat in dieser Situation die Funktion,
all das zu repräsentieren, was schon nicht mehr oder noch
nicht (oder vielleicht auch niemals) politisch repräsentiert
werden kann. Statt zum Ausdruck des Gemeinwillens wird die
politische Repräsentation somit zu einem Segment des
wesentlich breiteren Feldes aller möglichen durch die Kunst
kodifizierten kulturellen Haltungen und Willen. Die künst-
lerische Repräsentation funktioniert also korrelativ zur
politischen Repräsentation. Die künstlerische Repräsentation
dessen, was sich bereits politisch etabliert hat, wird in der
Regel als tautologisch, uninteressant oder überflüssig
empfunden. Die Kunst muss nach der modernen Ideologie
«alternativ» sein, d.h., sie muss zuallererst eine ästhetische
Repräsentation sicherstellen, wo eine politische fehlt.
Die Museen in den Metropolen der modernen Staaten sam-
meln alles, was in den Parlamenten der westlichen Länder
keine Repräsentation gefunden hat, und auf diese Weise
erfüllen die modernen Museumssammlungen den gleichen
Repräsentationsauftrag wie die politischen, demokratischen
Institutionen der Macht. Jede Lebensphilosophie oder jede
Lebensweise, die in der politischen Realität gescheitert ist, hat
dort den ihr offiziell zugewiesenen Platz, auch jede noch so
autoritäre, antidemokratische Position, sogar die Suche nach
einer absoluten Ordnung, sogar Eruptionen politisch oder
sexuell determinierter Gewalt, sogar jede Nostalgie und
Utopie, die nicht weiss, ob ihre Zeit schon vorbei ist oder noch
kommen wird.
Dieser gesellschaftlichen Funktion der modernen
Kunst entsprechend werden die grossen Museumssammlungen
wie auch die Grossausstellungen (documenta, verschiedene
Biennalen) nach dem gleichen Prinzip zusammengestellt wie
jedes demokratische Parlament. Die künstlerische Re-
präsentation richtet sich nach dem Anspruch auf angemessene
Repräsentation der verschiedenen Regionen ebenso wie der
verschiedenen politischen Positionen und Positionen in der
Kunstpolitik. Ein deutscher Expressionist sollte ebenso wenig
fehlen wie ein amerikanischer Künstler in der Nachfolge von
Pop-Art – so werden auf geschickte Weise gleichzeitig zwei
konkurrierende Kunstauffassungen und zwei wichtige
Kunstländer repräsentiert. Mit einem deutschen Popkünstler
oder einem amerikanischen Expressionisten würde es sich,
nebenbei bemerkt, wesentlich problematischer verhalten, weil
sie nicht so ohne weiteres in dieses Schema passen. Am Ende
jedoch wird alles ausbalanciert, und eine extreme politische
Haltung gehört ebenso in eine korrekt zusammengestellte
Schau wie eine gewollte erotische Provokation. Die besten
Chancen hat aber zweifelsohne das Werk, das beide Gesten
miteinander vereint und das gleichzeitig auf innovative Weise
mit den neuen Medien arbeitet, denn ein solches Werk
erlaubt es den Ausstellungsmachern, gleich mehrere Punkte
abzuhaken.
f
Insbesondere in letzter Zeit konnte man sich des Eindrucks
nicht erwehren, dass das Formen- und Themenrepertoire in der
modernen Kunst erschöpft ist. Die Aufmerksamkeit hat sich
deshalb auf die Persönlichkeit des Künstlers verlagert. Heut-
zutage wird eine Ausstellungsbesprechung zuallererst nach der
biographischen und nicht nach der künstlerischen Identität
der beteiligten KünstlerInnen fragen und beispielsweise
feststellen, dass in dieser oder jener Schau KünstlerInnen aus
Osteuropa oder der Dritten Welt oder auch KünstlerInnen
per se unterrepräsentiert seien. Gleichzeitig verwenden die
beteiligten KünstlerInnen ihre biographische Identität bewusst
und strategisch als eine Art von Readymade, mit dem sie die
Erwartungen des Publikums entweder erfüllen oder ent-
täuschen. Der Avantgardekünstler verwarf seine gesellschaft-
lich kodifizierte Identität auf der Suche nach seinem inneren
wahren Ich jenseits aller üblichen sozialen Unterscheidungen
nach Geschlecht, Ethnizität, Ort und Zeitpunkt der Geburt
usw. Der zeitgenössische Künstler bedient sich seiner gesell-
schaftlich kodifizierten und bürokratisch beglaubigten
Identität als eines Readymade: Er betrachtet sich selbst als
eine Art von duchampschem Urinal. Diese Selbstreadymade-
isierung setzt tatsächlich ein wesentlich distanzierteres
inneres Verhältnis zu sich selbst voraus als ein traditionelles
romantisches Selbstverständnis. Die Kunst bewegt sich hier
auf der gleichen höheren kulturellen Ebene wie eine moderne
Bürokratie, die den modernen demokratischen Pluralismus
verwaltet. Es gibt jedoch nach wie vor einen Anspruch an das
Werk jedes einzelnen Künstlers, dass dieses etwas Neues,
neuartige Erfahrungen oder eine Praxis neuer Art darstellen
sollte, die sich von anderen fremden, exotischen Lebens-
weisen herleitet, und dass eine solche Darstellung gleichzeitig
«kritisch» oder, besser noch, «dekonstruktiv» sein sollte. Die
modernen kulturellen und politischen Institutionen haben
immer einen Bedarf an neuen Readymade-Identitäten in ihren
Sammlungen, um ihre Beaufsichtigungs- und Verwaltungs-
tätigkeit zu erweitern und zu verbessern.
Es wird oft behauptet, die Institutionen würden Grenz-
überschreitungen, Tabuverletzungen oder Revolten der
Avantgarde «vereinnahmen». Tatsächlich jedoch fordern und
initiieren die Institutionen von Anfang an diese Grenzüber-
schreitungen und Tabuverletzungen, weil das demokratische,
pluralistische Prinzip der Repräsentation verlangt, dass alles
repräsentiert wird, was repräsentiert werden kann. Die Logik
der Avantgarde ist von Anfang an eine institutionelle Logik.
Diese Logik spiegelt den Verlauf der Grenze zwischen poli-
tischer Repräsentation und künstlerischer Repräsentation
wider, der sich mit der Zeit ständig wandelt. Die politischen
Lebensweisen, die bereits veraltet erscheinen oder in der
Wirklichkeit als solcher nie akzeptiert wurden, werden als
künstlerische Haltung, wie gesagt, geduldet und sogar belohnt.
Und aus mancher künstlerischen Haltung wird später eine
politische Haltung: Zwischen demokratischem Parlament und
e
modernem Museum besteht ein ständiger Austausch, der die
jeweiligen künstlerischen oder politischen Strategien
bestimmt. Die Spannung zwischen den durchschnittlichen
Trägern dieser Haltungen, die ihre Repräsentation in einem
Kunstkontext finden, und der künstlerischen Elite, die besagte
Haltungen repräsentiert, gleicht in hohem Masse der
Spannung zwischen der «Basis» und der politischen Elite, die
diese Basis im Parlament repräsentieren sollte. In beiden
Fällen beklagt man sich ständig über den Verrat dieser Eliten
im Interesse der bestehenden Institutionen, ein Vorwurf, der
allerdings seinerseits in der Kunst ebenso wie in der Politik
nur auf Grund des Anspruchs dieser Institutionen auf uni-
verselle pluralistische Repräsentation erhoben werden kann.
Die Tatsache, dass die Grenze zwischen Kunst und Politik
durchlässig ist und ständig in beiden Richtungen überschritten
wird, verleitet oft zu dem Glauben, dass es möglich sei, diese
Grenze vollständig zu beseitigen oder zu dekonstruieren. Tat-
sächlich gibt es keine metaphysische, natürliche oder logisch-
begriffliche Garantie dieser Grenze: Alles kann sowohl der
Kunst als auch der Politik zugeordnet werden. Am Anfang des
letzten Jahrhunderts verleitete diese Erkenntnis die historische
Avantgarde zu dem Bestreben, der ganzen Welt eine
ästhetische, künstlerische Repräsentation zu verschaffen. Der
traditionelle Mythos der historischen Avantgarde besagt,
diese habe mit Institutionen, Museen, Traditionen und Kon-
ventionen gebrochen, um wieder zu dem dahinter verborgenen
«wahren» Leben zu finden, mit dem Ziel, sich von diesem
wahren Leben leiten zu lassen oder es mit den eigenen künst-
lerischen Mitteln gezielt zu gestalten. Auf diese Überzeugung,
sie sei die einzige wahre und lebendige Kunst, gründete die
historische Avantgarde ihren Machtanspruch, der sie bei
verschiedener Gelegenheit und unter jeweils verschiedenen
Umständen zum Verbündeten und/oder Widersacher der
totalitären Regime im letzten Jahrhundert hat werden lassen.
Die Avantgarde wollte das universelle wahre Wesen hinter
den pluralistischen Legionen verschiedener historischer
kultureller Formen ausfindig machen und aus diesem tiefsten
Wesen den Gemeinwillen ableiten, der dem trennenden und
entfremdenden Pluralismus ein Ende bereiten und die wahre
universelle Demokratie einleiten könnte. Die Avantgarde
hat dabei allerdings übersehen, dass ihr Projekt selbst nur im
Rahmen der institutionell verwalteten kulturellen Pluralität
verstanden werden konnte und ihren Sinn verliert, wenn diese
Pluralität abgeschafft wird.
Man kann sagen, dass die historische Avantgarde die erste
historische Kunstrichtung war, die Platons Kritik an der
Bildkunst als einer blossen Reproduktion der pluralistischen,
äusseren, historischen Wirklichkeit ernst nahm. Die Avant-
gardekünstler sollten sich von dieser phänomenalen Wirklich-
keit ab- und deren innerstem, lebendigem, verborgenem
oder wahrem Wesen zuwenden, wie Platon es in seiner Zeit
gefordert hatte. (Dieses Wesen konnte auch das grosse Nichts
sein, die innere Leere, die es erlaubt, die Wirklichkeit nach
dem freien künstlerischen Willen zu gestalten.) Mit dieser
platonischen Kritik hat die Avantgarde allerdings den absolu-
ten Wahrheitsanspruch und den utopischen Entwurf der
platonischen Metaphysik geerbt, auch wenn Platon selbstbe-
kanntlich nicht an die Führungsfähigkeit der Künstler glaubte
und deshalb vorschlug, sie aus dem idealen, utopischen
Staat der Zukunft zu vertreiben. Statt jedoch vertrieben zu
werden, nahmen die Künstler der historischen Avantgarde sich
vor, dieses platonische Projekt mit ihren eigenen Mitteln zu
verwirklichen und die unumschränkten Gesetzgeber der Zu-
kunft, die Gestalter des Gemeinwillens zu werden – eine Ehre,
die bis dahin einzig und allein den Philosophen vorbehalten
war. Die grosse Utopie der Avantgarde ist gar nicht so neu: Sie
hatsich ganz im Gegenteil das älteste Bestreben des Menschen
zu eigen gemacht, nämlich das Leben auf die metaphysische
Grundlage der inneren, bisher verborgenen, doch nunmehr
offenbarten Wahrheit zu stellen.
Das Wesen des Lebens ist für die historische Avant-
garde jedoch keine philosophische Betrachtung mehr, sondern
eine ununterbrochene Bewegung: die Zerstörung des Alten,
die Schaffung des Neuen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich
die künstlerische Utopie der Avantgarde grundlegend von
der alten philosophischen Utopie Platons. Die historische
Avantgarde ist ein Platonismus, jedoch ein Platonismus nach
Nietzsche und Freud. Und die neue Utopie der ununter-
brochenen Bewegung ist keineswegs nur ein befreiender Aus-
bruch aus dem stagnierenden, kontemplativen Utopiebegriff.
Der platonische Philosoph war selbst den Gesetzen unter-
worfen, die er entdeckt und an die Gesellschaft weitergegeben
hatte: So genoss er den gleichen Status wie die übrigen Mit-
glieder dieser Gesellschaft. Anders der Fall eines Avantgarde-
künstlers: Er befindet sich stets in einer destruktiv-kreativen
Bewegung, d.h., er verstösst fortwährend gegen seine eigenen
Regeln, und zwar auf eine für die anderen völlig unerwartete
Art und Weise. Der Terror des Unerwarteten ist ein typischer
zeitgenössischer Terror, der im Grunde über den Terror der
platonischen Utopie hinausgeht. Den Begriff «Terror»
verwende ich hier nicht ohne Grund: Das Prinzip der
Eliminierung der alten «toten», kulturellen Traditionen und
der «trägen» Gesellschaftsschichten, die diese Traditionen
verkörpern, um zum wahren, lebendigen Kern der Dinge vor-
zudringen, bildete ebenso das theoretische Fundament für
den politischen Terror im letzten Jahrhundert.
Dieses Bemühen der Avantgarde um die Wirklichkeit, um den
unmittelbaren Eingriff in das Leben als solches einschliesslich
des politischen Lebens, gründete sich, wie gesagt, gleich-
zeitig auf das metaphysische Verständnis der Wirklichkeit als
etwas, das ausserhalb (oder meta-) des unmittelbaren oder
«konkreten» Kunstkontextes angesiedelt sei. Nach diesem
Verständnis ist der Kunstkontext, wie er in erster Linie durch
das moderne Museum definiert wird, eine Art Insel, die auf
allen Seiten von «Wirklichkeit» umringt ist. Will man zur
Wirklichkeit gelangen, so muss man seine Insel oder, um bei
der platonischen Metaphorik zu bleiben, seine Höhle verlassen,
wo lediglich die toten Abbilder der Dinge zusammengetragen
werden, und zu den Sachen selbst jenseits (oder meta-) dieser
Insel, dieser Höhle oder dieses Museums vorstossen. Zu
glauben, es gebe das grosse, unbekannte Andere jenseits unse-
res unmittelbaren kulturellen Kontextes, bedeutet immer
metaphysisch zu denken, und es macht keinen wesentlichen
Unterschied, ob man dieses grosse Andere als etwas begreift,
das potenziell der umfassenden Erkenntnis zugänglich ist
oder sich einer solchen traditionellen Erkenntnissuche im
Sinne der Dekonstruktion fortwährend entzieht. So oder so hat
diese andere, «wirkliche Wirklichkeit» notwendigerweise
anders auszusehen als ihr totes, altes Abbild im Museum: Wo
es keinen Unterschied gibt, gibt es keine Wirklichkeit. Die
platonische Metanoia, der Übertrittin den Bereich der Wirklich-
keit jenseits bereits kodifizierter Kunst, muss konkret unter
Beweis gestellt werden dadurch, dass man etwas offensichtlich
anderes und Neues zeigt. Es lässt sich demzufolge problemlos
nachweisen, dass der Anspruch auf Authentizität und Wirk-
lichkeit identisch ist mit dem Anspruch auf Neuheit in forma-
lem Sinn. Wirklich, gegenwärtig und «meta»-etwas zu sein
ist für uns das Gleiche wie nicht alt, bereits vertraut, bereits
Teil der Insel, der Höhle oder des Museums zu sein. Das heisst
aber gleichzeitig, dass die so genannte Wirklichkeit immer
bloss eine neue Erfindung, eine neue Fiktion, eine neue Reprä-
sentation ist: Nicht das Museum ist Teil der Wirklichkeit, eine
kleine Insel umringt vom Sozialen, sondern, ganz im Gegen-
teil, die Wirklichkeit ist eine bestimmte Form, ein bestimmtes
Segment innerhalb des Museums. Und wir sind gezwungen,
immerfort Formen oder Repräsentationen dieser Art durch das
Kunstsystem selbst hervorzubringen, weil dieses System wie
jedes andere nur kraft seiner eigenen Expansion existiert.
Unser modernes System der – ästhetischen und politischen –
Repräsentation ist ein Produkt dieser permanenten grenzüber-
schreitenden Erzeugung immer neuer Positionen, Haltungen
und kultureller Formen, die ständig den Anspruch erheben,
sie seien wirklich, nur weil sie neu sind.
Diese Überproduktion von Wirklichkeit funktioniert demzu-
folge wie eine Überrepräsentation. Zunächst einmal ist sie ein
Argument für das Museum und für das Kunstsystem. Dieses
System generiertimmerfort mehr Differenz, mehr Pluralismus,
mehr Repräsentation, die etwas Wirkliches zu repräsentieren
behauptet, tatsächlich aber lediglich die Gesetze ihrer eigenen
Produktion repräsentiert. Jeder Versuch der historischen
Avantgarde, das Museum um der Wirklichkeit willen durch
Strategien der Grenzüberschreitung zu zerstören, führte bloss
zu ihrer Selbstzerstörung, weil mit der Abschaffung des
Museums der Raum verschwindet, in dem die Wirklichkeit
überhaupt erst als Wirklichkeit konstituiert werden kann.
Die Dynamik der Avantgarde ist, wie gesagt, im Wesentlichen
eine institutionelle Dynamik. Die künstlerische Avantgarde
kam Ende des 19. Jahrhunderts auf, als das Museum und das
historische Bewusstsein, das die Institution Museum an den
Tag legte, bereits tief in der europäischen Kultur verwurzelt
waren. Avantgardistische Gesten erscheinen nur dann als
Tabuverletzungen, wenn man sie einem höchst beschränkten
Verständnis der akademischen europäischen Kunst gegenüber-
stellt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts jedoch kamen die
Europäer im Zuge der weltweiten militärischen Expansion
ihres Kontinents mit zahlreichen anderen Kulturen in
Berührung, die in den historischen, musealen Kontext gerückt
wurden. Die Politik der kolonialen Expansion und die damit
einhergehende Expansion der europäischen Museen führte zur
Musealisierung von immer mehr kulturellen Artefakten und
verschiedenen kulturellen Formen aus unterschiedlichen
Epochen und Gegenden – stets gemäss dem Kriterium der
historischen Repräsentation. Dies bedeutet, dass die Objekte,
die sich zur Musealisierung eigneten, Objekte waren, die in
einem musealen, universalgeschichtlichen Vergleich als
historisch relevant und stilistisch originell und in diesem Sinn
als neu in der Museumssammlung angesehen werden konnten.
Wenn man diese institutionelle museale Praxis und
nicht den blossen – traditionellen oder modernen – Publikums-
geschmack als Ausgangspunkt für unser Verständnis des
modernen Kunstkontextes nimmt, so erscheint die Avantgarde
des 20. Jahrhunderts als die unmittelbare Fortsetzung eines
musealen Sammelns, das besagte Strategien auf jene Dinge
ausdehnt, die die moderne Zivilisation hervorbringt oder die
eine Erfindung der Künstler selbst sind und die als historisch
relevant für die Gegenwart und mögliche Zukunft – beziehungs-
weise nur für die Vergangenheit wie in Museen des 19. Jahr-
hunderts – angesehen werden. Die Gegenwart wie die Zukunft
des modernen Europa muten die Avantgarde tatsächlich von
Anbeginn nicht lebendig und wirklich an, sondern vielmehr
wie bereits tote, historische Stile, die ihre historische
Originalität und ihren Platz im toten Museumsraum behaupten
könnten. Die wirkliche Strategie der Avantgarde ist eine
Grenzüberschreitung hin und zurück mit dem Ziel, die Sachen
von aussen zu sammeln, sie ins Museum zurückzuholen,
ganz, wie es den Bedürfnissen dieser stets an Komplettierung
ihrer Sammlungen interessierten Institution entspricht. Der
Avantgardekünstlerwirkt wie ein Abenteureraus der Kolonial-
zeit: Er ist ein Rebell und wird oft an den Galgen gebracht,
letzten Endes aber dient er der Krone.
Dieser innere Widerspruch der Avantgarde war auch bestim-
mend für das widersprüchliche Verhältnis der Avantgarde zu
den utopischen politischen Strömungen im letzten Jahr-
hundert. Auf der einen Seite waren die Lebensentwürfe der
Avantgarde viel radikaler, viel umfassender und viel kompro-
missloser als alles, was die zeitgenössischen politischen
Strömungen anstrebten oder in die Tat umsetzten, weil das
Projekt der Avantgarde auf einen wesentlich konsequenteren
Bruch mit der traditionellen Lebensweise abzielte. Auf der
anderen Seite ist die Avantgarde in hohem Masse auf die
demokratischen, universalistischen, repräsentativen In-
stitutionen angewiesen und unfähig, diese jemals wirklich in
Frage zu stellen. Der Zusammenbruch dieser Institutionen,
den die Avantgarde selbst so vehement gefordert hatte, machte
etwa im Russland der Stalin-Ära, aber auch im damaligen
Deutschland, die Avantgarde überflüssig. Wo die moderne, auf
das Prinzip der historischen Repräsentation gestützte Institu-
tion Museum tatsächlich verschwindet, verschwindet auch der
Bedarf an einer künstlerischen Avantgarde: Das kulturelle
Erbe löst sich dann aus jeder Bindung an traditionelle Institu-
tionen und findet neue Funktionen in den neuen kulturellen
Kontexten. Es ist das Museum, das die gesammelten
Kunstobjekte ausschliesslich als die historischen Signifikanten
verwendet, die die Möglichkeit ihrer Nutzung in anderen
Funktionen ausschliessen. Diese Unmöglichkeit eines anderen
kulturellen Gebrauchs historisch fixierter Stile macht die
Erfindung neuer Formen und neuer Repräsentationen
notwendig. Dort, wo die Historik einen ahistorischen Blick
hat, wie im stalinistischen Russland oder Nazideutschland,
gibt es keinen Bedarf mehr an neuen Signifikanten zur
Denotation der Gegenwart.
Ich bin etwas näher auf die Problematik der historischen
Avantgarde eingegangen, weil sie einige zentrale Probleme die
allgemeine Beziehung zwischen Politik und Kunst betreffend
erhellt. Die Standardideologie der Avantgarde lässt sich als
Hauptursache für ein grundlegendes Missverständnis
ausmachen, das weiterhin unser eigenes Denken über Kunst,
Politik und Institution leitet. Institutionen wie der Staat, das
Museum oder der Kunstmarkt wurden durch die Ideologie der
Avantgarde als Instrumente der Macht interpretiert, die der
dominierenden europäischen bürgerlichen Kultur diente. Für
die Avantgarde kam es demzufolge darauf an, eine alternative
Kultur zu entwickeln oder sich mit bestehenden nichteuro-
päischen oder ausgeschlossenen Minderheitenkulturen wie mit
einer so genannten proletarischen Kultur zu assoziieren. Die
modernen kulturellen Institutionen als solche sind aber nicht
Teil einer bestimmten Kultur, und sei sie auch eine normative
europäische Kultur. Die modernen kulturellen Institutionen als
solche sind ausserkulturell. Ein Museum ist eine Ansammlung
von Kunstobjekten, aber nicht selbst ein Kunstobjekt. Eine
Bibliothek isteine Ansammlung von Büchern, abernichtselbst
ein Buch. Seit dem Aufkommen der historischen Reflexion
Anfang des 19. Jahrhunderts hat die europäische Kultur sich
selbst relativiert, indem sie sich selbst als eine von vielen
historischen Kulturen betrachtet. Indem man die zeitgenös-
sische europäische Kunst Anfang des 19. Jahrhunderts in den
gleichen musealen Kontext stellte wie die Kunst anderer
Epochen und geographischer Räume, wurde ein kulturell
neutraler oder, genau genommen, ausserkultureller Raum der
bürokratischen Formalisierung geschaffen. Man kann immer
den Standpunkt vertreten, dass eine solche Selbstrelativierung
zwangsläufig unvollständig sei, dass die europäischen kul-
turellen Institutionen ihre kulturellen Determinationen nicht
überwänden und nicht ausserkulturell seien, sondern innerkul-
turell blieben, da sie bestimmte kulturelle Formen, Gepflogen-
heiten und Lebensweisen gegenüber anderen bevorzugten.
Diese völlig legitime Kritik übersieht jedoch die Tatsache,
dass ihre Ziele sich mit den inneren, immanenten Zielen der
Institutionen decken, die sie kritisieren möchte. Diese kultu-
rellen Institutionen sind – wie alle Institutionen des modernen
Staates – von Natur aus auf die Extrakulturalität als ihr wahres
Telos ausgerichtet. Dies ist auch ein Grund, weshalb jedes
neue subkulturelle Projekt oder jedes neu entdeckte kulturelle
Andere von diesen Institutionen so mühelos vereinnahmt
wird: Jeder neue Schritt im Zuge der Erweiterung der
kulturellen Pluralität macht diese Institutionen neutraler,
ausserkultureller und damit auch mächtiger. Die Macht des
modernen Museums und anderer vergleichbarer Institutionen
wie das Parlament hat ihren Hauptgrund genau in diesem
ihren ausserkulturellen, neutralen, rein formalistischen,
maschinenartigen Aufbau. Eine zunehmende Produktion des
Andern und Alternativen macht diese Institutionen dem-
zufolge zunehmend neutraler und mächtiger. Und nicht nur
das. Die künstlerische Produktion von Differenz spiegelt nicht
nur die realen oder schon bestehenden Differenzen in der
Wirklichkeit selbst wider. Differenz kann nicht nur entdeckt,
sondern auch erfunden werden. Und wenn wir in unseren
Museen einer grossen Vielfalt von Positionen, Stilarten oder
kulturellen Mustern begegnen, können wir nicht zwischen den
im Museum reflektierten «realen» kulturellen Positionen und
den fiktiven oder «uneigentlichen» Positionen differenzieren,
die eigens für den Museumsraum erfunden wurden. Ergänzen
wir diese Vielfalt durch das ganze Spektrum der kulturellen
Haltungen, die aus der historischen Vergangenheit schöpfen,
so erhalten wir eine Pluralität, die offensichtlich die «reale»
Pluralität der gesellschaftlichen Haltungen, die durch die
politischen Institutionen ihren Ausdruck findet, in den
Schatten stellt.
Man kann also sagen, dass das Kunstmuseum nicht nur ein
erweitertes Parlament bestehender kultureller Haltungen ist:
Es beherbergt nämlich noch einige weitere Haltungen, die
entweder unwiderruflich der Vergangenheit angehören oder
rein fiktiv sind. In diesem musealen Überschuss an Pluralis-
mus können wir die spezifische Legitimation der Macht
des modernen, pluralistischen demokratischen Staates über die
Gesellschaft sehen. Der moderne Staat beherrscht die Gesell-
schaft tatsächlich im Namen dieser zusätzlichen Pluralität,
die durch das moderne Museum und andere, vergleichbare
kulturelle Institutionen generiert wird, weil die Gesellschaft in
Wirklichkeit wesentlich weniger pluralistisch ist als der
moderne Staat, der sie repräsentiert.
Der herkömmliche Machtbegriff geht davon aus, dass
eine bestimmte Gesellschaftsschicht, kulturelle Haltung oder
Ideologie – direkt oder indirekt – eine im Grunde pluralis-
tische Gesellschaft beherrscht, die sich aus zahlreichen ver-
schiedenen Schichten, kulturellen Haltungen und Ideologien
zusammensetzt. Und so halten wir weiterhin in unserer
Gesellschaft Ausschau nach irgendeinem dominierenden
kulturellen Prinzip, um die Strukturen der Macht zu erklären.
Tatsächlich aber ist die Dominanz in unserer pluralistsichen
Demokratie ganz anders aufgebaut: Sie ist nicht die Herrschaft
des einen über die vielen, sondern eine Herrschaft der vielen
über die wenigen. Der Staat legitimiert seine Macht nicht
etwa durch die eine höchste Wahrheit, die er zu repräsentieren
vorgäbe, sondern durch eine Vielzahl verschiedener Wahr-
heiten, die er zu beaufsichtigen, zusammenzutragen und zu
verwalten behauptet. Und diese bürokratisch organisierte
Zusammentragung bietet eine weitaus grössere Zahl
interessanter Standpunkte und kultureller Haltungen als die
de facto hier und jetzt bestehende Gesellschaft, die viel
homogener, einheitlicher, gleichförmiger und langweiliger ist
als die dominierenden Institutionen. Verglichen mit den
staatlichen Sammlungen erscheint das kulturelle Bewusstsein
der Bevölkerung schlichtweg barbarisch, weil allzu kon-
formistisch. Die Kirche beherrschte die Gesellschaft, bzw. die
Welt, weil die Welt als sündig galt. Der Palast beherrschte die
Gesellschaft, weil die nichtadlige Bevölkerung keinen Stil,
keine Manieren und keinen Geschmack hatte. Das moderne
Museum beherrscht die Gesellschaft, weil die Gesellschaft –
im Vergleich zu ihren Sammlungen – zu trivial, homogen,
eintönig und langweilig, kurzum zu unpluralistisch erscheint.
Die Produktion und Sanktionierung der anderen, neuen
Haltungen stärkt demzufolge sowohl das Museum als auch
den modernen Staat im Allgemeinen.
Das avantgardistische Projekt, alternativ und anders zu sein,
funktioniert demzufolge von Anfang an auf einer Ebene unter-
halb der Ebene der realen politischen und kulturellen Macht,
die kulturell neutral oder ausserkulturell ist. Um mit dieser
Macht konkurrieren zu können, muss der Künstler oder Intel-
lektuelle nicht anders oder alternativ sein, sondern ausser-
kulturell, oder besser transkulturell oder transkontextuell. Der
avantgardistische Künstler versucht über seinen unmittelbaren
kulturellen Kontext hinauszugelangen, versucht durch eine
metaphysische Geste einen neuen, anderen Kontext zu
entdecken oder herzustellen. Unser Problem besteht heute
nicht mehr darin, etwas anderes, das Andere ausserhalb von
(oder meta-) etwas zu finden. Wir befinden uns jetzt
tatsächlich unwillkürlich schon immer in der Meta-Position,
weil wir nichts Eigenes mehr haben. Wir haben keinerlei
unmittelbaren kulturellen Kontext, dessen Grenzen es zu
überschreiten gelte. Stattdessen appellieren wir über die
neutralen, technischen Systeme der Information an potenziell
Interessierte in aller Welt, die ebenso wenig etwas über uns
wissen wie wir über sie. Es gibt keinen privilegierten Kontext
mehr. Auch das Museum ist kein solcher privilegierter Ort
mehr, um die Erinnerung an Berührungen mit dem Andern
darin zu bewahren. Wir sind nunmehr unaufhörlich mit dem
Andern konfrontiert, unsere kulturelle Umgebung ist in einem
ständigen Wandel begriffen: Wir sind an einem Tag in
Kopenhagen, an einem anderen in Moskau oder Barcelona,
und wir wissen nie, weshalb all diese verschiedenen Leute
sich anschauen, was wir tun, oder anhören, was wir sagen, und
was für eine Art von Reaktion wir erwarten können.
In dieser Situation ist es nicht die metaphysische Geste oder
Grenzüberschreitung, die wir brauchen, sondern die Fähigkeit,
diese immerzu erneuerten Konfrontationen mit einer immer
wieder anderen kulturellen Umgebung zu überstehen. Um zu
erreichen, dass wir sie tatsächlich überstehen können, sollte
unsere Strategie nicht eine alternative Innovation sein, sondern
Uniformität, Wiedererkennbarkeit und technische Repro-
duktion unseres kulturellen Bildes. Lediglich die Banalität, der
Stumpfsinn und die ewige Selbstwiederholung der heutigen
Massenkultur können mit den Kontrollmechanismen des
modernen pluralistischen Staates konkurrieren. Die kulturellen
Bilder wie Madonna oder Jurassic Park und in diesem
Fall auch Derrida und Foucault setzen sich über sämtliche
kulturelle Grenzen hinweg wie radioaktive Strahlung oder wie
Aids, das jedes kulturelle Immunsystem und dessen gene-
tischen Kode zerstört. Sie haben ein Mass an Transkulturalität
erreicht, das den ganzen Diskurs über kulturelle Identitäten
oder Multikulturalismus müssig macht. Coca-Cola, das, wie
Andy Warholerklärte, überallund fürjede Gesellschaftsschicht
den gleichen Geschmack hat, ist ein menschengemachtes
platonisches Ideal unserer Zeit, das unsere pluralistische,
relativistische «hohe» Kultur zerstört. An dieser Stelle möchte
ich bestimmte Merkmale dieser neuen Arbeit mit trans-
kulturellen, transkontextuellen Bildern ins Blickfeld rücken.
Diese neuen postmusealen Entwicklungen im Bereich der
Kunst und Kultur besitzen natürlich auch eine ganz unmittel-
bare politische Relevanz. Sie untergraben den pluralistischen
demokratischen Staat und räumen mit der ganzen Ideologie
des Andern und der Differenz auf. Stattdessen werden wir mit
einer neuen Uniformität und Eintönigkeit konfrontiert, die
gleichzeitig eine befreiende Wirkung hat, da sie dem
Einzelnen die Möglichkeit zur Manipulation, Konkurrenz und
Produktion auf der gleichen ausser- oder transkulturellen
Ebene gibt, auf der die Macht operiert. Und zu gleicher Zeit
befreit sich auch die gesamte Gesellschaft vom Joch der
Pluralität und Differenz und enthüllt ihre eigene weitgehende
Langweiligkeit, Trivialität und Konformität als den neuen
dominierenden kulturellen Wert.
Wir haben es hier tatsächlich mit einer heutigen Spielart des
Projekts der Aufklärung – und ebenso der Avantgarde – zu tun,
nämlich des Bestrebens, jede fiktive Andersartigkeit zu
eliminieren und zu Universalität zu gelangen. Diese Univer-
salität ist allerdings nicht mehr garantiert durch irgendeine
einheitliche Natur, die der Pluralität historischer kultureller
Formen zu Grunde läge, wie dies in der Philosophie der
Aufklärung von Rousseau bis Habermas der Fall war. Unsere
heutige Universalität ist nicht naturgegeben, sondern technisch
hergestellt und abhängig von der Universalität der Medien
und der Universalität der jeweiligen künstlich hergestellten
transkulturellen Bilder. Der Politik kommt demzufolge ihr
traditioneller Referent Natur mitsamt ihres modernen
Referenten Kultur abhanden und sie wird zu dem, was sie
schon immer war, nämlich die Kunst der Politik je nach den
technologischen Möglichkeiten und den gesellschaftlichen
Strategien der Kunst im Allgemeinen.
Die Avantgarde sehnt sich nach einer radikalen Utopie und
einer umfassenden Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens,
gleichzeitig aber hat sie Angst vor den Institutionen, ohne
die sie undenkbar wäre. Diese Konstellation ergab in der
Geschichte manches Missverhältnis und endlose, verwirrende
Auseinandersetzungen, im Zuge derer jeder über jeden herfiel
und gleichzeitig Angriffen von allen Seiten, von links wie
rechts, ausgesetzt war. Unsere Aufgabe besteht jedoch zunächst
einmal darin zu versuchen, diese Konstellation, die eine
derartige sonderbare Optik ergab, als Ganzes zu beschreiben
und erst danach vielleicht unsere eigene Position in dieser
Konstellation zu bestimmen.
Auch wenn die Annexionsstrategien der Vergangenheit
ausgedient haben und keiner mehr die Forderung erhebt, die
Politik völlig der Kunst oder die Kunst der Politik unterzu-
ordnen, gibt es heute nach wie vor ein Bedürfnis, die Grenze
zwischen Kunst und Politik zu verwischen beziehungsweise
zu dekonstruieren und dabei zu zeigen, dass jede Strategie der
Repräsentation gleichzeitig eine politische und eine
ästhetische Strategie ist. So ist wedereine traditionelle,präzise
Festlegung noch eine avantgardistische Aufhebung dieser
Grenze möglich, weil sie als solche eine rein ideologische
Grenze ist. Zudem wurde festgestellt, dass besagte Grenze
tatsächlich ständig überschritten wird, und diese Grenzüber-
schreitungen werden der Funktion der Sprache, dem grenzen-
losen Spiel der Zeichen oder der Dynamik der Bedürfnisse
zugeschrieben, derer sich die verschiedenen postmodernen,
poststrukturalistischen Theorien annehmen. Die Grenze wird
also nicht mehr metaphysisch-militärisch überwacht oder
gewaltsam verschoben, sondern wohlwollend beachtet im
Sinne des friedlichen Austauschs von Menschen und Waren.
Eine neuartige Position stellt sich jedoch nach wie vor
immer wieder als eine kritische Position dar, so, als wäre den
Institutionen an der Festlegung und Schliessung dieser
Grenze gelegen und als werbe und kämpfe nur eine kleine
Minderheit von Poststrukturalisten für deren Öffnung.
Demgegenüber ist klar, dass jeder Institution daran
gelegen ist, zu expandieren und ihre eigenen Grenzen zu
sprengen. Der Grund für die Instabilität der begrifflichen
Grenzen ist daher nicht im Unbewussten oder in der Sprache
der Textualität zu suchen, da diese Instabilität von Anfang an
ganz und gar gewollt und institutionell vorprogrammiert ist.
Die Kritik einer Institution leistet der Expansion dieser
Institution lediglich Vorschub. Diese Tatsache sollte jedoch
nicht als Beweis für die «Unmöglichkeit» von Kritik,
Avantgarde oder Grenzüberschreitung missverstanden werden.
Es ist tatsächlich unmöglich, den Sinn des Seins, das Wesen
der Welt oder überhaupt «das Ganze» künstlerisch oder
politisch zu repräsentieren. Genauso wie es unmöglich ist, das
grenzenlose Spiel der Zeichen, die unendliche Textualität oder
das unbegrenzte Funktionieren der Bedürfnisse und der
Differenz zu überblicken.
Es ist allerdings sehr wohl möglich, bestimmten Interessen
und Bedürfnissen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die
sich bislang weder in der Kunst noch in der Politik
repräsentiert fühlten, einen künstlerischen oder politischen
Ausdruck zu verleihen, mit dem sie sich identifizieren können.
Aus dieser Möglichkeit ergibt sich die Chance für einen
individuellen Abenteurer, die Grenze zwischen Kunst und
Politik zu dehnen. Denn die Kunst wie die Politik lebt vom
persönlichen Ehrgeiz und individuellen Erfolgsstreben.
Künstler und Politiker sind erfolgreich, wenn sie beliebt sind,
wenn sie sich in einen Fetisch verwandeln, der die libidinösen
Energien der einzelnen Massen auf sich zu ziehen und zu
bündeln vermag. Auf diese Weise wird diese Energie für die
Arbeit der Institutionen gewonnen.
Die Grenze zwischen Kunst und Politik wird somit
ausschliesslich bestimmt durch die Frage, ob diese libidinöse
Energie den «realen» oder den «sublimierten» Institutionen
zufliesst. Die Grenzziehung ist in diesem Fall keine theo-
retische, sondern eine praktische und strategische. Und als
solche kann sie weder theoretisch aufgehoben noch de-
konstruiert werden. Sie ist nicht begründbar, aber auch nicht
bestreitbar. Und weil sie unbegründbar ist, ist sie durchlässig.
Man kann diese Grenze überschreiten, man kann sie in beiden
Richtungen überqueren, man kann über sie hinweg seinen
Handel mit verschiedenen Objekten, Positionen, Werken oder
Haltungen treiben. Wie ein solcher Handel praktiziert werden
kann, hat die Kunst im letzten Jahrhundert des Öfteren vor
Augen geführt.
Die Grenzgänge und grenzüberschreitenden
Wanderungen bedeuten jedoch nicht, dass die Grenze damit
verschwindet. Ganz im Gegenteil: Diese Grenze wird dadurch
gerade immer wieder neu definiert und zugleich von neuem
konsolidiert und gesichert. Und erst das Fortbestehen dieser
Grenze macht weitere Verletzungen derselben möglich und
sogar strategisch notwendig. Die Grenzverletzungen sollen
allerdings zugleich die Grenze neu konstituieren und neu
thematisieren, sie sichtbarund erfahrbar machen. Verschiedene
Künstler und Politiker nützen immer wieder die Möglich-
keiten, die diese verlockende Situation ihnen bietet, und
entwickeln ihre persönlichen Strategien in Kenntnis dieser
Grenze, um dadurch ihren Namen mit einer historischen
Bedeutung aufzuladen, auf die lediglich Abenteurer und
Renegaten Anspruch haben – und wieso auch nicht?
Aus dem Englischen von Bram Opstelten